Das Reaktorunglück in Fukushima

Das Reaktorunglück in Fukushima geschah im März 2011 und hat in Deutschland Besorgnisse ausgelöst, welche die nach dem Reaktorunfall in Tschernobyl noch übertreffen. Als Resultat hat die Bundesregierung jetzt - getrieben von der mehrheitlichen Meinung der deutschen Öffentlichkeit - beschlossen, die 7 ältesten, noch laufenden Kernreaktoren für ein Moratorium von 3 Monaten abzuschalten. Ob sie je wieder ans Netz gehen werden, ist fraglich und wird sicherlich auch davon abhängen, ob ohne diese Kraftwerke die Versorgung Deutschlands mit elektrischer Energie gesichert werden kann. Aber sind diese, schon fast hysterischen Reaktionen von Regierung und Öffentlichkeit gerechtfertigt?

Über die wirklich bedrohlichen Folgen des Reaktorunglücks in Fukushima ist bisher nur wenig bekannt, auf jeden Fall weniger als über die nach dem Tschernobyl-Unfall. Bedroht sind sowohl die Gesundheit der Bevölkerung, wie auch die wirtschaftliche Entwicklung der betroffenen Länder. Um die Situationen nach Tschernobyl und nach Fukushima miteinander zu vergleichen, habe ich überwiegend auf die englischsprachigen Publikationen der UNSCEAR1), wie auch auf mein Buch Energie2 zurückgegriffen.

1. Gesundheitliche Folgen

In der Tabelle rechts werden die wesentlichen Parameter der beiden Unglücke gegenübergestellt. Ganz offensichtlich sind die enormen Unterschiede in den Schätzwerten über die Spätfolgen. Vermutlich sind diese, wenigstens zum Teil, verursacht durch die ideologische Brille, mit deren Hilfe diese Schätzungen erfolgten. Denn Angaben mit der größten Anzahl von Toten werden gewöhnlich von Organisationen gemacht, die der Nutzung der Kernenergie kritisch gegenüberstehen (z.B. Greenpeace), während die kleinsten von solchen Organisationen stammen, welche keine Einwände gegen deren Nutzung erheben (z.B. IAEA).


Tschernobyl
(April 1986)
Fukushima
 (März 2011)
freigesetzte Radioaktivität1)
17.6 · 1017 Bq
(1 - 5) · 1017 Bq
direkte Frühfolgen
28 Tote*)
0 Tote
indirekte Spätfolgen
4000 - 100000 Tote
<100 Tote**)
*)Bis zum Jahr 2004 hatte sich die Anzahl der nachweislich durch den Reaktorunfall verursachten Todesfälle auf 47 erhöht, die meisten in der Gruppe der 5300000 "Liquidatoren".
**)Aufgrund von PTBS bei älteren Menschen.

Dem Argument, dass die Differenzen auch durch statistische Unsicherheiten verursacht sein könnten, kann ich nicht folgen. Der Vergleich von Indikatoren vor und nach dem Unfall sollte durchaus die Möglichkeit eröffnen, die Folgen eines Reaktorunfalls auf die menschliche Gesundheit (z.B. Schilddrüsenkrebs) und das menschliche Erbgut (z.B. Down-Syndrom) zu untersuchen.

Der Einfluss radioaktiver Strahlung auf eine größere Bevölkerungszahl n(t) lässt sich statistisch beschreiben mithilfe eines Wachstumsmodells, wie es in Energie2 vorgestellt wurde:
,
wobei der Geburtsfaktor und  der Sterbefaktor jeder Einzelperson in der Bevölkerung sind. Durch die bei einem Reaktorunfall freigesetzte Radioaktivität
 
werden Geburtsfaktor und Sterbefaktor nach dem LNT-Modell proportional zur Radioaktivität verändert:

mit gleichfalls veränderten Faktoren und . Die Differentialgleichung für das Wachstums der an den Unfallfolgen leidenden Bevölkerung ergibt sich daher zu:
 ,
wobei N0 die Gesamtzahl der zum Zeitpunkt des Unfalls emittierten und die Krankheit in einem Menschen verursachenden Radionuklide ist. Die Lösungen für diese Differentialgleichung lauten:
        Fall (A):
Die Faktoren C1 und C2 sind anzupassende Integrationskonstanten. Werden die Radionuklide über eine mittlere Zeit 1/ vom Körper inkorporiert, so ist es wahrscheinlich angemessener anzunehmen, dass der Geburtsfaktor und der Sterbefaktor proportional zur akkumulierten Radioaktivität  sind. Die "biological response function" muss die Randbedingungen und konst. (begrenzt) erfüllen und führt im einfachen Fall zu den Annahmen:

Es ist nicht zu vermeiden, aber durchaus verständlich, dass in dieses Problem eine weitere Konstante () eingeführt werden muss, welche den biologischen Aspekt einer Krebserkrankung beschreibt. Die sich daraus ergebende Differentialgleichung für die zeitliche Entwicklung n(t) der Bevölkerung mit Krebs hat die Lösungen
        Fall (B):

Man beachte, dass sowohl im Fall (A) wie auch im Fall (B) für sehr lange Zeiten dn()/dt = 0 gilt. Ein vernünftiges Ergebnis, denn jegliche Wirkung aufgrund eines Reaktorunfalls sollte dann abgeklungen sein.

Für das Auftreten von Schilddrüsenkrebs in Weißrussland (ca. 60% der radioaktiven Emissionen aus Tschernobyl gingen dort nieder) wurden Daten für die Jahre 1970 - 2001 veröffentlicht. In der Abbildung unten rechts sind diese Daten, nicht getrennt nach weiblichem und männlichem  Bevölkerungsanteil, gezeigt.

Es besteht allgemeiner Konsens darüber, dass Schilddrüsenkrebs durch das radioaktive Jodisotop 131I verursacht wird. Dieses war der überwiegende  (ca. 95%) Primärbestandteil der Emissionen nach dem Tschernobyl-Unfall, 131I hat eine Halbwertszeit von t1/2 = 8.02 d. Daraus ergibt sich eine Zerfallskonstante von  = 31.55 a-1 und dies ist die entscheidende Größe, welche den zeitlichen Ablauf (siehe Abbildung rechts, rote Kurve) des Auftretens von Schilddrüsenkrebs bestimmt, sowohl im Fall (A) wie auch im Fall (B):
Wäre 131I ursächlich für diese Krebsform verantwortlich, hätte die Erkrankungsrate nach dem Reaktorunfall in Tschernobyl wieder sehr schnell abfallen müssen.
Vor dem Unfall stieg der Anteil der Bevölkerung mit Schilddrüsenkrebs langsam an (blaue Kurve).

Zeitliches Auftreten (blaue und rote Punkte) von Schilddrüsenkrebs in Weißrussland vor (blau) und nach (rot) dem Reaktorunfall in Tschernobyl.
Ich will nicht auf die anderen, anzupassenden Parameterwerte (N0, , ) eingehen. Sie können in keinem Fall so justiert werden, dass die Daten durch die berechnete Krankheitsrate  reproduziert werden, denn ist der alles dominierende Parameterwert.

Was also sind die Gründe dafür, dass der erwartete Ablauf der Krebserkrankungen dem gemessenen Ablauf so wenig entspricht?
  • Die Messungen sind falsch.
Davon gehe ich nicht aus. Es sollte aber erwähnt werden, dass eine Messung ohne Fehlerangabe in einer physikalischen Fachzeitschrift nicht publiziert werden könnte.
  • Der gemessene Krankheitsanstieg wird nicht durch erhöhte Radioaktivität verursacht.
Ein möglicher Grund könnte z.B. sein, dass die Registrierung der Krebserkrankungen nach dem Reaktorunfall eine wesentlich größere Bevölkerungsgruppe erfasste und sorgfältiger als vorher durchgeführt wurde.
  • Die erhöhte Radioaktivität löst bisher unbekannte biologische Prozesse aus.
Diese Annahme liegt nahe, denn die einmalige Freisetzung von 131I hat für den Krankheitsverlauf nur den Charakter eines Delta-Ereignisses. Anschließend finden biologische Prozesse statt, welche das Risiko erhöhen, an Krebs zu erkranken. Im Rahmen statistischer Modelle ließe sich dies ähnlich beschreiben wie eine Sequenz von sich selbst erzeugenden, radioaktiven Zerfällen2). Mir erscheinen die Eigenschaften dieser biologischen Prozesse jedoch so wenig erforscht, dass ich ihre Modellierung nicht versuchen werde. Auf der anderen Seite ist es jedoch ebenso verwegen, Schätzwerte dafür anzugeben, wie groß der Bevölkerungsanteil sein wird, welcher in Zukunft noch wegen des Reaktorunfalls in Tschernobyl - ebenso wie in Fukushima - an Krebs erkranken wird. Neben der Radioaktivität als Auslöser können und werden noch viele andere Faktoren beteiligt sein.

Für das Auftreten des Down-Syndroms bei Geburten in Weißrussland wurden ebenfalls Daten für die 144 Monate von Anfang 1981 bis Ende 1992 veröffentlicht3), siehe Abbildung rechts. Dies ist zwar eine Fülle von Datenpunkten, leider zeigen sie so große statistische Schwankungen, dass diese die Analyse auf der Basis von Fall (A) oder Fall (B) unmöglich machen. Was möglich ist, ist die Berechnung der mittleren Anzahl von Geburten mit Down-Syndrom vor dem Reaktorunfall (blaue Linie) und nach dem Reaktorunfall (rote Linie).  Demnach betrugen diese Mittelwerte
 dnvor/n = 0.00098 ± 0.00004 vor dem Unfall
und
dnnach/n = 0.00111 ± 0.00004 nach dem Unfall.
Daraus ergibt sich ein Anstieg von 13 ± 7 %. Der Wert des Anstiegs liegt nur innerhalb des Zweifachen der Standardabweichung und kann deshalb, gemessen an physikalischen Kriterien, nicht als statistisch gesichert betrachtet werden.


Zeitliches Auftreten (blaue und rote Punkte) des Down-Syndroms bei Geburten in Weißrussland vor (blau) und nach (rot) dem Reaktorunfall in Tschernobyl. Die Linien zeigen das mittlere Auftreten samt der Standardabweichung vom Mittelwert.
Die Analyse der gesundheitlichen Folgeschäden nach dem Reaktorunfall in Tschernobyl lässt daher nur eine Schlussfolgerung zu:
Es gibt keine wissenschaftlich gesicherte Grundlage, auf der die Spätfolgen von Reaktorunfällen, wie denen von Tschernobyl und Fukushima, berechnet werden könnten.
Die veröffentlichten Schätzwerte über das Ausmaß dieser Folgen sagen mehr über die Einstellung des Schätzers zur Kernenergie und einem (möglichen) Reaktorunfall aus, als über diesen Unfall selbst.

Einigermaßen plausibel erscheint aber die Vermutung, dass die gesundheitlichen Spätfolgen des Reaktorunglücks in Fukushima ungleich geringer sein werden, als die unmittelbaren Schäden nach dem Erdbeben und dem sich anschließenden Tsunami, welche das Gebiet um Fukushima verwüsteten. Und als ziemlich sicher kann gelten, dass die wirtschaftlichen Folgen noch gravierender sein werden. Und diese treffen ganz Japan und vermutlich auch die gesamte Weltwirtschaft.

2. Wirtschaftliche Folgen

Sicherlich liegen die unmittelbaren wirtschaftlichen Folgen in den ungeheuren Zerstörungen, welche das Erdbeben und der Tsunami in Japan hinterlassen haben. Der Wiederaufbau wird große wirtschaftlich Mittel binden, dies ist aber nicht direkt auf das Reaktorunglück in Fukushima zurückzuführen. Jetzt liegen statistische  Daten bis in das Jahr 2012 vor und aus denen wird ersichtlich, welchen Einfluss auf die japanische Volkswirtschaft dieses Unglück hatte.

Nach meiner Ansicht sollten dabei folgende Indikatoren betrachtet werden:
  1. Das Bruttoinlandprodkt BIP.
  2. Der Primärenergiebedarf PEB.
  3. Der Bedarf an elektrischer Energie Wel.
    1. Der Anteil Wel(nukl), der von Kernreaktoren stammt.
    2. Der Anteil Wel(ernb), der von erneuerbaren Energien stammt.
  4. Die Energieeffizienz e_e.
Für alle 4 Indikatoren sind die japanischen Daten für 8 - 10 Jahre seit 1995 in der Tabelle unten gezeigt.

1995
2000
2005
2007
2008
2009
2010
2011
2012
2013
2014
BIP (1012 USD a-1)
4.175
4.269
4.536
4.768
4.757 4.390
4.610
4.580
4.845
4.919
4.916
PEB (1012 kWh a-1) 6.306
6.567
6.612
6.632
6.455
6.047
6.421
6.107
6.035
6.108

Wel (1012 kWh a-1)
0.990
1.092
1.158
1.195
1.146
1.113
1.157
1.108
1.094
1.091

     Wel(nukl) (109 kWh a-1) 291
322
305
264
258
280
288
102
16
9.3

     Wel(ernb) (109 kWh a-1) 3.11
3.46
4.98 4.61
5.01
5.72
6.67
7.41
7.61
8.50

e_e (USD2005 kWh-1)
0.662
0.650
0.686
0.719
0.737
0.726
0.718
0.750
0.803
0.805


Anhand dieser Indikatoren lässt sich erkennen, dass die Auswirkungen wesentlich schwächer, als erwartet, waren. Die wesentliche Veränderung ergab sich - nicht überraschend - beim Beitrag der Kernenergie zur Elektrizitätsversorgung, dieser betrug im Jahr 2013 nur noch etwa 1/35 des Beitrags im Jahr 2000. Sollten die japanischen KKW permanent vom Netz gehen, so fehlen der japanischen Volkswirtschaft ca. 0.3 · 1012 kWh a-1 an elektrischer Energie Wel und es besteht keine Aussicht, diesen Bedarf mithilfe erneuerbarer Energien zu decken: Ihr Anteil hat sich gegenüber 2000 nur um einen Faktor 2.5 vergrößert. Dass trotzdem ausreichend Primärenergie zur Verfügung stand, ist allein höheren Energieimporten zu verdanken, insbesondere von Kohle.

Nach dem Rücktritt der Regierung Kan hat der neue Ministerpräsident Abe daher  angekündigt, wieder verstärkt auf den Einsatz von Kernenergie zu setzen und u.U. auch den Bau neuer KKWs zu genehmigen. Mitte 2013 ist die Genehmigung für einige der 48 abgeschalteten Reaktoren erteilt worden. Damit ist die deutsche Regierung unter Kanzlerin Merkel weltweit die einzige, welche tatsächlich Konsequenzen aus dem Reaktorunglück in Fukushima gezogen hat.
  

1)Publikationen über Tschernobyl und Fukushima.
2)Eine Beschreibung derartiger Prozesse findet man z.B. in meinem Buch "Physik für Biologen".
3)Diese Daten sind dem Artikel über Tschernobyl entnommen, sie stammen aber offensichtlich von A. W. Jablokow, der Umweltberater in der russischen Regierung unter Boris Jelzin war und sicherlich nicht verdächtigt wird, die Kernenergie zu favorisieren.