Vom Anfang und Ende




Reduziert man das Weltgeschehen auf einzig das, was sich mithilfe messbarer Größen beschreiben lässt, so müsste die Schöpfungsgeschichte beginnen mit den Worten:

Im Anfang war die Veränderung, und die Veränderung war unumkehrbar.

Veränderung ist das Merkmal aller Entwicklungen, von der Vergangenheit, über den Augenblick, in die Zukunft. Alle dabei ablaufenden Prozesse sind irreversibel, d.h. es ist unmöglich, einen Prozess zeitlich so umzudrehen, dass ein zukünftiger Zustand vollkommen identisch ist zu einem Zustand in der Vergangenheit1). Das Kap. 6.2 gibt dafür ein illustres und uns selbst betreffendes Beispiel: Unser eigenes Leben. Denn wir leben nur für eine begrenzte Zeit und mit dem Schicksal, immer älter werden zu müssen, aber nie jünger werden zu können.

Die Irreversibilität eines Prozesses hat aber, nach physikalischem Verständnis, die Konsequenz, dass durch ihn Entropie erzeugt wird, und zwar durch die Wandlung von Energie aus einer hochwertigen in eine minderwertige Form. Und damit wird eine prinzipielle Grenze für alle auf der Erde möglichen Prozesse erkennbar:
Die Vielzahl der möglichen Prozesse auf der Erde ist begrenzt durch die maximale Entropie, welche mit den vorhandenen Formen hochwertiger Energie erzeugt werden kann.
Dieses Gesetz ist so allgemein, dass sich daraus keine Kriterien für die Anzahl und die Art besonders vorteilhafter Prozess herleiten ließe. Aber es macht die klare Aussage, dass die Vermehrung von Prozessen, etwa durch eine wachsende Weltbevölkerung und/oder einen steigenden Lebensstandard, nicht endlos möglich ist, sondern irgend wann an eine Grenze stoßen muss. Oder in den Worten des Club of Rome:
Jedes Wachstum findet seine Grenze, die allein vorgegeben ist durch die Energie.

Will man diesem Sachverhalt eine mathematische Form geben, so muss demnach für einen stetig2) anwachsenden Prozess f(t) gelten:
g(t) = df(t)/dt = 0 für t -> - und t -> +.
Das besagt, alle Prozessänderungen in der weit zurückliegenden  Vergangenheit und in der weit vorausliegenden Zukunft sind null, in den Zeiten davor und danach gab und wird es keine Veränderungen geben. Und weiterhin: Da sich der Prozess stetig von einem minimalen Wert fmin zu einem maximalen Wert fmax verändert, muss g(t) einen maximalen Wert g0 zur Zeit t0 besitzen.

Es gibt beliebig viele Funktionen g(t), welche diese Kriterien erfüllen. Ich will nur zwei Beispiele betrachten, die symmetrisch um t0 sind und für die daher zu dieser Zeit f0 = (fmin + fmax)/2 gilt.

1. Beispiel einer Veränderung3)
g(t) =
1 - 0.0099·t2 für  -10 [t] < t < 10 [t]
0 sonst
In ihrem Gültigkeitsbereich ist dies eine Parabel, als log ist sie in der Abbildung rechts in blauer Farbe dargestellt.

2. Beispiel einer Veränderung
  g(t) = 4 (1+exp(-0.5975·t))-1 (1+exp(+0.5975·t))-1
Für große, absolute Werte von t entspricht diese Funktion einem exponentiellen Anstieg bzw. Abfall, als log ist sie in der Abbildung rechts in roter Farbe dargestellt.


Die 2 beispielhaften Funktionen zur Beschreibung natürlicher Veränderungen.
Man erkennt, dass in beiden Fällen g0 = 1 ist. Für t = ± 10 [t] wird der Wert g = 0.01 erreicht, also 1% des maximalen Werts. Ich habe dies mit Bedacht so gewählt, denn nur innerhalb des Intervalls -10 [t] < t < 10 [t] sind die Veränderungen tatsächlich groß genug (also größer als die anzunehmenden Schwankungen), dass sie eventuell den realen Entwicklungen in der Natur entsprechen könnten. Die zugehörigen Entwicklungsfunktionen f(t) ergeben sich durch Integration über t und lauten:

1. Beispiel
f(t) =
 c + t - 0.0033·t3 für  -10 [t] < t < 10 [t]
Der Parameter c ist die Integrationskonstante, für die ich c = 6.7 annehme, so dass f(-10) = 0 und f(+10) = 13.4.

2. Beispiel
          f(t) = c (1+exp(-0.5975·t))-1
Der Parameter c ist die Normierungskonstante, für die ich c = 13.4 annehme, so dass f(-10) 0 und f(+10)   13.4.4)

Auch diese beiden Entwicklungsfunktionen sind in der Abbildung rechts dargestellt.

Die zur Abbildung oben zugehörigen Entwicklungsfunktionen. In rot ist das epidemische Wachstum dargestellt.
Und obwohl die 2 hier untersuchten Veränderungsfunktionen zeitlich sehr unterschiedlich verlaufen, unterscheiden sich die daraus abgeleiteten Entwicklungsfunktionen nicht wesentlich, jedenfalls nicht in einem Maße, dass die eine falsch und die andere richtig sein muss. Beide beschreiben den Verlauf eines begrenzten Wachstums, beginnend bei einer unteren Grenze fmin 0 und endend bei einer oberen Grenze fmax, welche nach einer endlichen Zeit erreicht wird. Diese Zeitspanne ist natürlich Prozess abhängig, aber es entsteht, wenn grafisch dargestellt, immer die Form eines gedrehten "S", die charakteristische Form jeder natürlichen Entwicklung innerhalb fester Grenzen.

Ich bin auf dieses Ergebnis ausführlich in dem Manuskript Energie3 eingegangen und habe dort dargelegt, warum ich für mathematische Formulierungen immer die im 2. Beispiel vorgestellte Entwicklungsfunktion benutze: Sie lässt sich mithilfe allgemein gültiger Annahmen herleiten und ist deswegen häufig in Naturgesetzen anzutreffen. Eine dieser natürlichen Entwicklungen (die epidemische Ausbreitung von Krankheiten) hat auch zur Namensgebung "epidemisches Wachstum" geführt und ich will zur Begründung die entsprechenden Passagen aus meinem Buch wiederholen:
Die Ausbreitung einer Epidemie innerhalb einer Anzahl n0 von Individuen geschieht zu sehr frühen Zeiten gemäß der Annahme, dass die Zunahme an Infektionen proportional ist zur Anzahl der bereits infizierten Individuen (dn/dt n), welche alle anderen noch anstecken können. Zu sehr späten Zeiten aber ist die Zunahme  proportional zur Anzahl der gesunden Individuen (dn/dt (n0 - n)), denn nur die können sich noch anstecken.
Der Gesamtverlauf des epidemischen Wachstums wird daher allgemein beschrieben durch die Differentialgleichung

(1)
und der im 2. Beispiel behandelte Fall ergibt sich als spezielle Lösung dieser Gleichung mit den Konstanten a = 0.5975 [1/t] und b = 0.0746 [1/f]. Allein schon die unterschiedlichen Einheiten dieser Konstanten lassen erkennen, dass ihnen verschiedene Bedeutung zukommt:
  • Die Konstante a legt die Geschwindigkeit des Wachstums fest.
  • Die Konstante b gibt an, welchen maximalen Wert das Wachstum erreichen wird:
    • fmax = 1/b [f], dagegen
    • fmin = 0 [f].
Damit beschreibt die Differentialgleichung (1) nur eine um t0 symmetrische Veränderungsfunktion g(t), d.h. ihr exponentieller Anstieg und Abfall gehorchen der gleichen Zeitkonstante a. Falls die Zeitkonstante des Anstiegs (a+) verschieden sein soll von der des Abfalls (a-), so existiert für diesen Fall (nach meiner Kenntnis) keine Differentialgleichung vom Typ (1), die zugehörige Entwicklungsfunktion f(t) muss mithilfe numerischer Integration aus der Veränderungsfunktion g(t) erzeugt werden (siehe 2. Beispiel).

In den folgenden Kapiteln wird sich oft die Aufgabe stellen, eine mathematische Formulierung für ein prinzipiell begrenztes Wachstum zu finden. Als Basis benutze ich dann immer die Differentialgleichung (1), deren explizite Form an die jeweilige Fragestellung anzupassen ist.


1) Es ist durchaus möglich, dass durch einen Kreisprozess der Ausgangszustand teilweise wieder erreicht wird. Aber das gilt nur für diesen einen Teilzustand des Systems, die vollkommene Rückführung, welche alle Zustände erfassen müsste, ist unmöglich.
2) Stetig ist ein Prozess, wenn dnf(t)/dtn im gesamten Gültigkeitsbereich der Funktion f(t) existiert und endlich bleibt.
3) [x] steht für die Einheit von x.
4) Die Abweichung von der Gleichheit beträgt nur 0.25%.